Über Sevdalinka

Sevdalinka– traditionelles bosnisch-herzegowinisches Volkslied, trotzte der Zeit seit Jahrhunderten und lebt mit erstaunlicher Symbiose mit den Generationen in Bosnien-Herzegowina.

Sie ist ein Lied aus dem bosnischen urbanen Bereich. Mit der Zeit drang sie auch ins bosnische Dorf, aber dennoch schlug sie die tiefsten Wurzeln in den Städten, also dort, wo sie auch entstanden ist. Einzelne Städte, ihre Vororte und andere Lokalitäten sind nur der Rahmen, in denen unser volkstümlicher Dichter die Handlung seines Liedes platzierte, seiner lyrisch-poetischen Aufzeichnung über den Liebeskummer, die Schwärmereien oder die Freude.  Die Sevdalinke sind in vielen Beispielen durch bestimmte Persönlichkeiten geprägt, meistens durch Mädchen und Jungen, gerühmt wegen ihrer Schönheit und ihres Heldentums.

In ihnen findet man das, was für die sogenannte Volksseele charakteristisch ist: die Sprache, die Position und den Status der Familienmitglieder, lokale Bräuche, die Esskultur, den Kleidungsstil. Mit anderen Worten: alles, was die Menschen in der Vergangenheit gefühlt haben und wie sie diese Gefühle ausgedrückt haben, was ihre Träume waren und wie sie die Welt um sich herum wahrgenommen haben.

Sevdalinka kam durch das türkische Wort “sewda”, das für Liebe steht, zu ihrem Namen.
Die Türken übernahmen es aus dem Arabischen. In unserer Sprachregion wurde an “sevda” noch ein “h” angehängt und so entstand “Sevdah”.
Über die Entstehung der Sevdalinka gibt es mehrere Theorien.
So behauptete beispielsweise der deutsche Slawist Gesemann,  sie entstünde aus den höheren Schichten des bosnischen Feudalismus. Andere wiederum sind der Meinung, dass sie aus der Unterschicht käme, dem einfachen Volk, welches ihrem Leid durch Freude und Gesang entfliehen wollte. Dritte aber sagen, dass Sevdalinka in erster Linie ein weibliches Lied ist, gesungen von patriarchal erzogenen jungen Frauen, während sie an ihren Stickrahmen hinter den hölzernen Fenstergittern saßen und jeder Nadelstich die Sehnsucht nach ihren Liebsten verstärkte. Er aber reiste durch das Kaiserreich, trieb Handel oder kämpfte, derweil sie wartete, träumte und ihre Sehnsucht in Lieder formte.

In jeder Theorie wohnt ein Stückchen Wahrheit inne, da es unmöglich erscheint, das ganze Schaffen innerhalb der Volkstraditionen nur einer gesellschaftlichen Schicht zuzuordnen, sei es die Ober- oder Unterschicht.
Solch ein Lied könnte sowohl auf den Veranden der Begs, als auch in ärmlichen Häusern entstanden sein, weil sie im selben Umfeld wohnten, zwischen den gleichen Naturkulissen.

In dem jahrhundertelangen Leben, in unterschiedlichen Schichten der städtischen Bevölkerung, wurde die Sevdalinka erdacht und gesungen, insbesondere bei den Zusammentreffen junger Frauen und Männer, beim Tanz, Hochzeiten und anderen Familienzusammenkünften, in den Höfen und Gärten, in den Türmen und auf den Verandas, in Wohnräumen, bei Festen, auf der Straße, bei gesellschaftlichen Abenden, in den Tavernen, in der Nachbarschaft, auf Pferden reitend, draußen, während der Jagd, auf den Stadtmauern, in der Gefangenschaft, auf dem Schlachtfeld, unter fremdem Himmel… Sevdalinka ist nicht, wie man zu sagen pflegt, für den “alltäglichen Gebrauch”. Jeder wird davon abraten, da sie als solche Wehmut hervorruft. Sie legt sich schwermütig auf die Seele und könnte für einen unvorbereiteten Zuhörer äußerst schmerzhaft sein. In solch einem Fall ist sie nicht zu empfehlen.
Eine allen bekannte Beschreibung der Sevdalinka kommt daher nicht von ungefähr, die da lautet: Fragt man ein bosnisches Kind, was denn Sevdalinka sei, dieses darauf antworte:
“Das ist, wenn Papa singt und dabei weint!”

Das ist eine der originellsten und akzeptabelsten Erklärungen für Sevdalinka in Bosnien und welche Macht sie damit hat. Beinahe jede Sevdalinka ruft mit ihrer Sensibilität und ihrer Ausdrucksstärke beim Zuhörer eine Gänsehaut hervor, die jedem Sevdah-Liebhaber bekannt ist. Aber genauso findet sie den Weg zu den Hartnäckigsten und Stärksten, bei denen letztendlich auch die eine oder andere Träne vergossen wird.
Wie viele Tränen flossen wohl wegen ihr?
Nur darüber könnte man ein ganzes Buch schreiben!

Wie viele Tränen wurden geweint, nicht nur wegen dem Lied als solchem, sondern wegen der unsichtbaren Fäden, durch die es die Botschaft vermittelt, das Erlebnis, das Gefühl, den Zustand…Wie viele Tränen nur bei den Verliebten, den Enttäuschten, den Verlassenen, den Verletzten, denen in der Heimat und denen fern davon, in einem gestohlen Moment der Einsamkeit, sowie den Augenblicken des Zusammenseins, des Glückes, aber auch der Trauer.Die Zeiten änderten sich. Es änderten sich auch die Instrumente, Menschen, Länder, Regierungen, Bräuche. Sie blieb und überdauerte. Stolz und unzerstörbar. Wie die Religion!
Das kann jemandem nicht Recht sein oder ihn stören.
Sollte es aber nicht, denn dies ist eine Tatsache, ein Fakt und die Wahrheit.
Wir müssen die Niederlage anerkennen.
Wir sind diejenigen, die vergänglich sind, sie aber bleibt und überlebt. Sie ist nicht vergänglich. Sie ist ewig, unverrückbar und zeitlos. Darin liegt ihre Stärke und Kraft. In der Liebe, im Sevdah liegt die Stärke, die Kraft und die Größe!

Sevdalinka ist der Spiegel der Seele und der seelischen Verfassung!
Sowohl des Individuums, als auch des Volkes. In fernen Zeiten, als es aus erzieherischen, traditionellen, religiösen oder gerade vorherrschenden kulturellen Gründen noch die Sehnsucht nach dem Bestimmten und Unausgesprochenen in der Liebesbezeugung gab, fanden die Menschen Trost im Gesang, dessen Inhalt vor Liebe strotzte und mit dem lebensnotwendigen, wohlbekannten Ausdruck aufgeladen war. Dies konnte über Jahrhunderte und kann es immer noch – nur Sevdalinka!

Sevdalinka ist eine wahrhaftig tragische und universelle Kunst.

Aus diesem Grund ist sie heutzutage in einer verarmten Kultur mit eingeschränkter Sichtweise nicht populär, nicht verstanden. Ihr sehnsüchtig-melancholischer Ausdruck ist in ständigem gegenseitigem Einvernehmen mit Metaphysischem und Mystischem.
Sie kreist zwischen der Liebe und dem Tod, wie ein tragisches griechisches Epos.
Die Gesangstradition der Sevdalinka ist eine Geschichte für sich. Sevdalinka ist von Natur aus eine mündlich überlieferte Kunst und alles, was bis heute bewahrt worden war, ist mündlich durch Gesangsunterricht an neue Generationen weitergegeben worden. Sie trugen diese alte Musik, deren melodischer und textlicher Grundcharakter sich bis ins 20. Jahrhundert kaum veränderte, sicher durch die Zeiten.
Ein Sevdalinka-Sänger ist kein Interpret im banalen Sinne.
Er versteht sich als eine Art Bewahrer und Träger wichtiger Andenken aus fernen Zeiten.
Echte Sänger und Interpreten von Sevdalinka sind nicht mehr am Leben, ausgenommen einige wenige, die sie auf authentische Art und Weise vor dem Vergessen bewahren.
Obwohl die Sevdalinka untrennbarer Teil der bosniakischen musikalischen und kulturellen Tradition ist, ist sie ebenso bei anderen bosnischen Völkern beliebt. Sevdalinka diente in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Grundlage für ein besonderes musikalisches Genre, die sogenannte neu komponierte Schlagermusik, in der sich eine Mischung verschiedener folkloristischer Komponenten von nahezu allen Völker Balkans und der Region zusammenfand.

Obwohl sie meistens von traditionellen bosnischen Volksmusikern gesungen wurde, kam es dennoch vor, dass die Sevdalinka ihren Weg zu Sängern anderer Musikrichtungen suchte.

So kam es dazu, dass im Laufe ihrer erfolgreichen Karriere Josipa Lisac (mit der legendären Sevdalinka-Interpretation “Omer Beže”), Seid Memić Vajta („Kolika je Jahorina planina“), Željko Bebek im Duett mit Halid Bešlić ( „Da zna zora“), Davorin Popović („Žute dunje“), Ibrica Jusić (mit einem ganzen Sevdalinka-Album, “Amanet” aus dem Jahre 2003), Masimo Savić ( „Evo ovu rumen ružu“), Hari Varešanović („Svuda se sunce rađa“), sowie Jadranka Stojaković („Što te nema“), Zdravko Čolić („Zvjezda tjera mjeseca“) Sevdalinka aufgenommen und gesungen haben. Sevdalinka bildeten auch die Grundlage einiger Lieder des Zagreber Liedermachers Johnny Štulić (seine Band Azra verdankt ihren Namen einem Vers aus der Sevdalinka “Ja se zovem El Muhamed/Iz plemena starih Azra”).

– An einem Aprilmorgen, genau genommen in der Morgendämmerung, im Jahre 1946 weckte mich ein unbekannter rhythmischer Klang und Gesang. Das war ein merkwürdiges Singen, tief menschlich, irgendwie altertümlich und ursprünglich, aber gleichzeitig vertraut und lieblich. Ich schaute aus dem Fenster und erblickte einige dörfliche Karren: auf ihnen eine Hochzeitsgesellschaft, in weißen und bunten malerischen Trachten. Ein Bärtiger mit einem roten Schal um den Kopf trommelte mit viel Rhythmusgefühl auf einer Zylindertrommel aus Rindsleder, der dröhnende Gesang weckte die Bewohner aus ihrem letzten morgendlichen Traum: “Šta u dvoru žubor stoji, šta ono vele? Haj, ono majka sina ženi, pa se vesele! Svak se tome radovaše, majka najviše… Dieses kleine, aber sehr eindrucksvolle Ereignis, brachte mich zurück in das Reich meiner Kindheit, in die Welt seiner Wunder und die Tage, an denen man alles mit aufgerissenen Augen betrachtet. Ich erinnerte mich an die vielen Lieder, die meine Mutter, Schwester, Tante, unsere Nachbarinnen: Duda, Dževahira, Bosiljka…sangen.

Ich wusste, dass dies Lieder eines primitiven Ausdrucks sind, aber wahrhaftig und immer noch lebendig, unbefleckt durch die Quasi-Zivilisation, interessant und schön.…Ich begann die Sevdalinka zu lieben. Sie brachte mir die Liebe zurück, zu Wertigkeiten, die ich unbedacht, aber mit Rechtfertigung verloren hatte. Das lyrische Volkslied ist noch interessanter. Ihre Stimme kommt aus der Tiefe des Uralten, des Altertümlichen und des Unbegreiflichen. Dank diesem Lied können wir den Geist und den Atem des Altertums spüren, können uns die Verhältnisse innerhalb einer patriarchalen Gesellschaft vorstellen, so wie die Lebensart und Denkweise, wie sie vor langer Zeit vorherrschten.

Heutzutage hat dieser Gesang, mehr oder weniger, den utilitaristischen Einschlag abgeworfen und glänzt einer Perle gleich, die wir aus der Muschel vom Grund eines geheimnisvollen Meeres herausgeholt haben. Sein Ausdruck ist präzise, konzis, nah. Er kann auch heute noch vorbildlich sein – schrieb der bekannte bosnische Dichter Mehmedalija Mak Dizdar.

(Verfasser: Avdo Huseinović)

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